Letzte Ausfahrt: Auswanderung

Der bewegende Bericht des Vaters einer behinderten Tochter, wie ihn die unbarmherzige und sozialfeindliche deutsche Corona-Politik mit seiner Familie zur Auswanderung zwang.

​Er lebt heute glücklich in Mexiko.

Die Corona-Pandemie hat viele Familien plötzlich und unerwartet getroffen.Über Jahre eingespielte Abläufe mussten auf einmal über den Haufen geworfen und neu geplant werden.Schulen, Kindergärten und Kitas wurden geschlossen, die Kinder mussten zu Hause lernen und versuchen, mit häufig Internet unerfahrenen Lehrern den Stoff des Schuljahres in irgendeiner Art und Weise zu meistern. Besonders Eltern von kleinen Kindern, jetzt ins HomeOffice verbannt, erlebten auf einmal einen Alltag zwischen Teams-Call und Windeln wechseln. Zahlreiche Videos gingen um die Welt, in denen der Nachwuchs auf einmal die Videokonferenz gesprengt hat. Was auf den ersten Blick niedlich und süß wirkt, war für die meisten Eltern eine Belastungsprobe. Arbeit und Familie gleichzeitig unter einen Hut bringen - dafür war und ist unsere Leistungsgesellschaft nicht ausgelegt.

Familien, welche Kinder mit Behinderung haben, wurden davon doppelt getroffen.Integrative Stellen wurden aus Angst vor dem Virus geschlossen, Pflegehilfen durften nicht mehr unterstützend eingreifen und meist brach auch der Support aus der eigenen Familie zusammen. Oma und Opa sind schließlich Angehörige der Risikogruppe.

Als Betroffene können meine Frau und ich ein Lied davon singen: Unsere Tochter leidet unter einem seltenen Gendefekt, der so neu und unbekannt ist, dass er noch nicht einmal einen Namen hat. Nur die Nummer des betroffenen Gens ist ein Anhaltspunkt, um sich mit den wenigen anderen Eltern online austauschen zu können. 2019 war für uns ein Ärzte-Marathon: Schon 2018 hatten wir bemerkt, dass mit unserem kleinen Schatz etwas nicht stimmt.Neben einer sich nicht entwickelnden Sprache hatte sie auch motorische Schwierigkeiten.Im Januar 2019 wurde sie drei Jahre alt und entwickelte mehr und mehr geistige Aussetzer.Zu Beginn fanden wir das sogar noch amüsant. Ich scherzte „Jetzt muss sie rebooten“, ein Satz, für den ich mich heute abgrundtief schäme.

Viele EEGs und Termine in Krankenhaus und SPZ, auch stationär, brachten dann die Gewissheit: Unsere Tochter litt an Absencen, einer ideopatischen generalisierten Art der Epilepsie.Im Gegensatz zur „normalen“ Epilepsie zappelt sie dabei nicht herum, sondern verliert kurzzeitig das Bewusstsein. Das Gehirn geht auf Standby, während die Blitze darin zucken.Das kann überall passieren: Beim Spielen, Essen, Schaukeln. Oder auch beim Gehen, was bei unserer Tochter irgendwann zu einer Bekanntschaft mit dem Türstock führte.

Behandelt wurde mit einem Antiepileptikum, Valproat, auf das sie zum Glück sehr gut ansprach.Diese Behandlung hat natürlich auch Nebenwirkungen, so dass wir in regelmäßigen Abständen zur Blutabnahme und zu weiteren EEGs erscheinen mussten. Ein Pflegegrad 2 wurde festgestellt und wir bekamen einen Platz im integrativen Kindergarten um die Ecke. Dort entwickelte sich unsere Tochter, nicht zuletzt auch durch die Förderung, sehr gut.

Bis Corona dem allem ein Ende setzte.

Wir lebten in Bayern, als Markus Söder den Notstand erklärte und alles dicht machte. Alles dicht machen, das bedeutete Absperrband um die Spielplätze, zu Hause bleiben und das Ende der Betreuung im Kindergarten.Der Pflegegrad wurde zu diesem Zeitpunkt auf 3 angehoben und wir hatten schon seit einiger Zeit eine Putzfrau, die meiner Frau, welche von zu Hause aus arbeitete, einmal die Woche unter die Arme griff. Mit einer betreuenden Pflegekraft war nicht zu rechnen gewesen: in der für uns zuständigen Lebenshilfe gab es nur Betreuer mit einer Ausbildung für alte Leute. Der Versuch mit solch einer Hilfe endete im Chaos und vielen Tränchen auf den Backen unserer Tochter.

Dank Corona fiel diese Hilfe nun auch weg. „Aufgrund der Corona-Pandemie können wir Ihnen leider keine Putzfrau mehr zur Verfügung stellen“ - zu unserem Schutz. Schließlich war unsere Tochter Risikogruppe. Eine Risikogruppe mit einem ungeheuerlichen Betreuungsbedarf. Das Ende vom Lied: Wir stellten unsere Putzkraft auf Minijobbasis selber bei uns ein, damit zumindest das Haus regelmäßig sauber wurde. Meine Frau zerriss sich nun zwischen Kinderbetreuung, Windelwechseln und ihrem Home Office Job. Bis es nicht mehr ging und sie ihrem Chef die Kündigung überreichte. Nervlich war sie zu diesem Zeitpunkt bereits völlig am Ende. Ich versuchte in meinem Job, so viel Zeit und Freiheiten zu ermöglichen, um auszuhelfen, aber am Ende war ich der Hauptverdiener und meine Vorgesetzten sagten mir irgendwann einmal durch die Blume, dass ich mich entscheiden muss, ob ich meinen Job richtig machen kann oder ob meine Familie ein Hindernis ist. Und irgendwo musste das Geld ja rein kommen. 

Unsere kleine Maus hatte inzwischen die Diagnose „Globale Entwicklungsverzögerung und Retardierung, außerdem Verdacht auf Autismus“. Der Verlust des Kindergartens schmerzte sie sichtlich, vor allem, weil sie erst kurz zuvor ihre erste Freundin gefunden hatte, ein Mädchen mit Trisomie 21. Zu den Blutabnahmeterminen erschienen wir Eltern jetzt mit Maske. „Maske doof!“ mussten wir uns dann anhören, hatte unsere Tochter doch gelernt, sich die Lippenbewegungen von Erwachsenen anzusehen, um ungefähr zu verstehen, was ihr gesagt wurde. Dieses Hilfmittel fiel auf einmal weg.

Einen EEG Termin hatten wir 2020 lange aufgeschoben. Die Krankenhäuser sollte man ja möglichst meiden: Alle überlastet, strenge Regeln und keine Termine. Erst im November konnten wir so wieder vor Ort erscheinen. Unter strikten Auflagen.

Unsere Tochter ist ein Gewohnheitstier. Jeder Ablauf muss täglich gleich sein, sonst kommt sie durcheinander. Änderungen quittierte sie mit verstärktem „Stimming“, also Zwangshandlungen, mit denen sie nonverbal ihre Stimmung und Gefühle zum Ausdruck bringt. Vor der Medikation hatte sie sich auch regelmäßig ihre kleine Hand blutig gebissen, das war nun zurück. Ein Verband rund um die kleine Kinderhand war nicht die ideale, zu diesem Zeitpunkt aber die einzige Lösung.

Als der EEG-Termin kam, wollten wir wie üblich zu dritt - Mama, Papa, Tochter - in das Kinderkrankenhaus. „Zutritt nur für einen Elternteil“, sagte uns der breitschultrige Türsteher am Eingang. Schweren Herzens entschied sich meine Frau, draußen in Regen und Kälte zu warten. Traditionell war ich während der Messungen als „Geduldigerer“ derjenige gewesen, der unsere am ganzen Kopf verdrahteten Tochter die recht langweilige Zeit des Stillhaltens begleitet. Aber Mama war sonst immerhin bis zur Verkabelung geblieben, um unserer Maus Mut zuzusprechen.

Schon beim Gang in den Aufzug merkte meine Tochter, dass etwas nicht stimmt. „Wo denn Mama hin?“ fragte sie immer wieder. Meine Erklärungsversuche, dass wir es heute etwas anders machen würden und sie ihre Mama nach dem EEG wiedersehen würde, verstand die Kleine natürlich nicht. Als wir schließlich im Untersuchungsraum waren und die Schwester die Elektroden anlegen wollte, hatte sich die ganze Angst ob der ungewohnten Situation in einen soliden Heul- und Schreikrampf entwickelt: Meine Tochter riss sich aus meinem Arm los und versteckte sich unter dem einzigen Tisch im Raum, die Stühle um sich wie einen Schutzschild gezogen, und rief flehentlich nach ihrer Mama.

Da dämmerte es auch der diensthabenden Schwester, dass wir so nicht weiter kommen und rief im Foyer an, dass man ausnahmsweise zwei Elternteile hinein lies. Aber das Kind war bereits in den Brunnen gefallen: Als meine Frau in der Tür erschien, warf sich unsere Tochter in ihre Arme, weinte bitterlichst und rief nur noch „Heim gehen!“. Also Abbruch. Den nachfolgenden Termin im angeschlossenen SPZ wollten wir dennoch wahrnehmen, auch wenn wir keine EEG-Daten hatten. Wir schritten durch den kalten Novemberregen zu dem Nachbargebäude, ich das noch immer wimmernde Kind im Arm. Hinein durfte diesmal nur meine Frau, Tochter und Papa mussten bei der Anmeldung draußen bleiben. Sie schilderte der Sprechstunde den Fall und ob wir, obwohl jetzt eine Stunde zu früh, zumindest kurz mit unserem behandelnden Arzt sprechen könnten. Dieser war natürlich gerade noch mit anderen kleinen Patienten beschäftigt, aber in ein bis zwei Stunden hätte er sicher Zeit für uns. Warten müssten wir aber bitte draußen im Regen, da auf Grund der Pandemie der kindgerecht eingerichtete Wartesaal Sperrzone sei. Aber bitte nicht zu weit entfernen, es könnte ja sein, dass wir früher drankämen, so genau wisse man das nie.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch immer ein wimmerndes, allmählich trotz dicker Winterjacke frierendes Kind auf dem Arm. Als meine Frau wieder auf dem SPZ herauskam und mich über die Neuigkeiten aufklärte, war die Entscheidung schnell gefasst: Wir fahren nach Hause. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass unsere Tochter dieses Krankenhaus von innen sah: Seit diesem Vorfall hatte sie eine Phobie vor Ärzten und dem Geräusch von Krankenwägen entwickelt, die sich vor allem im ersten Jahr nach der Impfkampagne äußerte, als immer häufiger die Klänge des Martinshorns durch unsere Wohnsiedlung hallten. Als später der Kindergarten wieder öffnete, berichteten die Betreuerinnen, dass unsere Kleine bei einem gemeinsamen Ausflug beim Klang des Tatü-Tata beim Überqueren der Straße einfach panisch stehen blieb, sich zusammenkauerte und die Ohren mit ihren kleinen Händen bedeckte. Zum Glück passierte ihr nichts weiter, aber diese Reaktion erfolgte nun jedes Mal bei Sirenengeheul.

Die Situation im wieder eröffneten Kindergarten war auch keine bessere: Die neu gefundene Freundin war in einer anderen Gruppe und durfte demnach nicht mehr mit unserer Tochter spielen. Flatterband zierte den Kindergartenhof, damit die drei Gruppen auf keinen Fall miteinander in Kontakt kämen. Logopädie wurde zuerst mit Maske versucht, bis man auf die Idee einer Plastikscheiben zwischen Erzieherin und unserer kleinen Patientin kam. Die Fortschritte waren marginal; im Gegenteil, denn der positive Trend vor Corona hatte sich ins Gegenteil verkehrt.

Neben immer mehr Anfällen waren auch die zarten Fortschritte in Sprache und Motorik rückläufig geworden. Während sich auch die Mama körperlich und geistig immer mehr aufzehrte. Eine andere, radikalere Lösung musste her. Und so beschlossen wir im November 2021, den einzig richtigen Schritt zu tun. Etwas, das wir schon länger geplant hatten, aber bisher nie den Mut dafür hatten. Für das Wohl unserer Tochter wollten wir es aber wagen: Auswandern.

Inzwischen schreiben wir Ende Juli 2023. In unserer neuen Heimat, fern vom deutschen Wahnsinn und den Klauen von kinderhassenden Politikern, hat unsere Tochter neben Schwimmen, Tauchen und Schaukeln noch viele andere Dinge gelernt, die wir 2021 für unmöglich gehalten hätten. Sprachlich lernt sie inzwischen Deutsch, Englisch und Spanisch simultan. Auch die Anfälle sind auf ein Minimum heruntergegangen. Inzwischen haben wir Tage, an denen sie eine ganz normale Siebenjährige ist. Mit Träumen, Phantasie und großen Augen, welche eine auch für uns neue Welt begeistert entdeckt.

Wir sind endlich glücklich.


Mexiko, im Juli 2023