Ausgrenzung von Ungeimpften ist falsch - auch wenn es vermeintlich "die Richtigen" trifft

Von Janina Lionello 

26.12.2021

Empathie für das Erleben andersdenkender Menschen ist vielen Menschen dieser Tage abhanden gekommen, und Toleranz scheint zu einem starren Konzept verkommen, das lediglich auf Positionen angewandt wird, die man ohnehin teilt.

Wie Ungeimpfte derzeit aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, folgt einem bekannten Ausgrenzungsmechanismus: Eine bestimmte Gruppe von Menschen wird zum einzigen Hindernis beim Erreichen eines gemeinsamen Ziels stilisiert - dem Ende der Pandemie. Dabei ist Ausgrenzung der falsche Weg, und zwar immer, kommentiert Janina Lionello. 

Beleidigungen, Schuldzuweisungen, Bösartigkeiten: Wenn ich Kommentare über Ungeimpfte lese, die häufig in den Sozialen Medien kursieren, bin ich jedes Mal zutiefst erschüttert. Sie spiegeln eine Entwicklung wider, die ich in letzter Zeit auch in meinem Umfeld beobachte: Menschen, die sich jahrelang für Toleranz und Pluralismus stark gemacht haben, erachten Ausgrenzung plötzlich als legitim - sofern sie nur "die Richtigen" trifft.

Sie stoßen sich weder daran, dass Kollegen in der Arbeitskantine separat sitzen müssen, noch stört es sie, dass Menschen, die sich gegen eine Impfung entscheiden, in der Uni entsprechend kenntlich gemacht werden. Wer sich nicht impfen lassen möchte, darf weder Weihnachtsgeschenke kaufen noch einen Friseursalon betreten - die Empörung darüber bleibt aber aus. Stattdessen wird jede noch so sinnlose Regel zur lebensrettenden Pandemieeindämmungsmaßnahme aufgeblasen.

Die Begründungen ähneln sich häufig: Sie haben es doch selbst in der Hand! Sollen sie sich doch impfen lassen! Doch gegen die eigene Überzeugung zu handeln kann für einen Menschen eine schlimme Erfahrung sein - unabhängig davon, ob ein Außenstehender, der diese Überzeugung nicht teilt, das nachvollziehen kann oder nicht.

Das gilt es zu respektieren. Empathie für das Erleben andersdenkender Menschen ist vielen Menschen dieser Tage abhanden gekommen, und Toleranz scheint zu einem starren Konzept verkommen, das lediglich auf Positionen angewandt wird, die man ohnehin teilt.

Eine Impfquote ist kein Selbstzweck

Wir sind gut darin geworden, diskriminierende Worte und Symbole zu erkennen und uns dagegen zu positionieren. Die dahinterliegenden Mechanismen hingegen durchschauen wir häufig nicht. Es ist reiner Ethnozentrismus, zu glauben, Minderheiten würden in anderen Gesellschaften diskriminiert, weil Menschen dort böse oder rückständig seien. Die Mechanismen, die wirken, sind fast immer dieselben: Eine bestimmte Gruppe wird vom Rest abgespalten, indem sie zum einzigen Hindernis beim Erreichen eines gemeinsamen Ziels erklärt wird. Nur ein paar Prozent mehr Impfquote, und die Pandemie käme zum Erliegen, so die weitläufige Vorstellung.

Der Blick auf Länder, in denen sich trotz sehr hoher Impfquoten Infektionswellen türmen - aktuell beispielsweise Dänemark, Portugal oder Irland - führt diese Argumentation ad absurdum. Auch, dass phasenweise mancherorts hohe Impfquoten mit niedrigeren Fallzahlen korrelieren, entkräftet das nicht, denn eindeutige Evidenz sieht anders aus.

Die Impfung ist das effektivste Mittel, um gut durch die Pandemie zu kommen, denn ihren Hauptnutzen - das Verhindern schwerer Krankheitsverläufe - erfüllt sie durchaus.

Das epidemiologische Ziel aber, durch hohe Antikörperspiegel in der gesamten Bevölkerung Infektionswellen zum Erliegen zu bringen, ist unrealistisch, denn allein die Tatsache, dass Geimpfte im Schnitt etwas kürzer infektiös sind, bedeutet noch nicht, dass sie signifikant weniger zum Infektionsgeschehen beitragen. Auch Virologen wie Christian Drosten oder Alexander Kekulé sprechen sich gegen den Begriff "Pandemie der Ungeimpften" aus.

Kekulé vertritt sogar die Auffassung, 2G heize das Infektionsgeschehen zusätzlich an, da geimpfte Infizierte wegen fehlender Krankheitssymptome mobiler seien. Die Infektionszahlen in den genannten Ländern sind ein Indiz dafür.

Lückenhafte Daten

Politiker argumentieren gerne damit, dass die Krankheitslast auf den Intensivstationen durch Ungeimpfte extrem viel höher sei als die durch Geimpfte. Tatsächlich beschreiben Mediziner das Bild auf Intensivstationen so, dass meist Ungeimpfte dort landen. Verlässliche Statistiken gibt es dazu bislang aber nicht. Während das RKI noch immer lückenhafte Daten zur Verfügung stellt, hat es die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) bis heute nicht geschafft, Zahlen zu im Impfstatus der Intensivpatienten in Deutschland zu veröffentlichen - obwohl die Ampel-Koalition dies bereits Mitte November angekündigt hat.

Und selbst wenn dem so sei - andere Menschen, die Risiken für schwere Krankheitsverläufe wie beispielsweise Übergewicht oder eine Raucherlunge selbst verschulden, und deshalb Intensivplätze belegen, werden dafür bislang auch nicht angegangen.

Anstatt sich wutentbrannt auf Ungeimpfte zu stürzen, täten Pandemieüberdrüssige besser darin, ihren Ärger auf Politiker zu fokussieren, die es nach fast zwei Jahren Pandemie immer noch nicht geschafft haben, für ordentliche Daten zu sorgen, um ein zielgerichtetes Pandemiemanagement zu ermöglichen, und die bei der schrittweisen Reduktion von Intensivbetten tatenlos zugesehen haben.